Das Erscheinen des Antlitzes

Wer schon einmal vor der Zeit der Digitalfotografie Fotos selbst entwickelt hat, kennt den Moment, in dem aus der Entwicklerlösung langsam ein Bild, beispielsweise ein Gesicht, hervortritt und sichtbar wird.
Der Ausdruck „Epiphanie des Antlitzes” stammt von dem Philosophen Emmanuel Levinas (1906–1995). Was damit gemeint ist, wird in der erschütternden Geschichte von Dr. Anthony Levatino (vgl. Beitrag unten) deutlich.
Es geht darum, im Anderen von Anfang an das zu sehen, was er ist: eine menschliche Person. Nichts drückt die seinsmäßige, unverlierbare Würde und Erhabenheit des Menschen besser aus als sein Gesicht.
Jeder Mensch kann die Würde des Menschen, die in seinem Sein gründet und als solche anerkannt oder eben verleugnet werden kann, erkennen.
Für die menschliche Person wird das personale Selbst bzw. das personale Ich des Anderen in seinem Leib sichtbar und erfahrbar, den er nicht hat, sondern der er ist. Aus diesem Grund strahlt das menschliche Gesicht auch die unergründliche Erhabenheit und die unverlierbare personale Würde des Menschen aus.
Um diese axiologisch bedeutsame Wirklichkeit [die Werte betreffend] wahrzunehmen, muss man den anderen Menschen als Person anerkennen. Dies gilt besonders für die ungeborene menschliche Person.
Dr. Anthony Levatino hat ein Leiden, es ist keine Krankheit. Er leidet an Personvergessenheit. Das heißt, er erkennt die Würde des Menschen nicht an, weil er bestimmte Menschen bewusst von ihr ausschließt, um an ihrem Tod Geld zu verdienen… Er kann sein Handwerk nur ausführen, weil ihm das Antlitz der Menschen, die er tötet, nicht erscheint. Er sieht ihr Gesicht nicht, obwohl das Gesicht eines menschlichen Embryos schon äußerlich am Ende der achten Woche nach der Empfängnis gut zu erkennen ist (der Embryo hat dann eine Größe von ca. 29 mm).
Es wird also deutlich, was Levinas mit dem Ausdruck „Epiphanie des Antlitzes“ meint: Es geht insbesondere um die Erkenntnis des Personseins des Menschen.
Diese Erkenntnis bildet das Fundament unserer und aller Zivilisationen.
Dr. Raphael Bexten
Warum Dr. Anthony Levatino nach über…

„Liebesweisheit. Emmanuel Levinas - Der Philosoph des Anderen.“

Emmanuel Levinas (1906–1995)
Foto: Bracha L. Ettinger: Emmanuel Levinas (ohne Jahr)
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Auch Rauscher interpretiert Levinas Philosophie des Anderen im obigen Sinn, wenn er schreibt:
„An dieser Stelle möchte ich versuchen, die Levinasschen Überlegungen auf folgende ethische Fragestellung anzuwenden: Betrifft uns auch das Antlitz eines noch ungeborenen Menschen? Sein ‚doppelt‘ unsichtbares Antlitz macht die Immaterialität dieser Aufforderung bewußt: Ohne Unterschied zu einer real vor mir stehenden Person ruft mich auch dieser unsichtbare Mensch in meine volle Verantwortung. Als im doppelten Sinne Außenstehender bin ich dem Antlitz des Fötus gleichermaßen verpflichtet. Dieser Andere läuft erst gar nicht Gefahr, von mir als hübsch, häßlich oder arrogant abgeurteilt zu werden, er ist im höchsten Sinne erhaben über meine musternde Wahrnehmung, er entgeht, obwohl er da ist, meinem beobachtenden Blick. […] Gerade im ungeborenen Kind als dem hilflosesten aller hilflosen Geschöpfe bin ich aufgerufen zu ununterbrochener Unruhe und Sorge für sein Wohlergehen, mit all meiner Kraft sein Leben zu schützen. Abtreibung kann also nicht eine Frage der ‚Selbstbestimmung‘ über den ‚eigenen‘ Körper sein, sondern muß unter dem Aspekt der ethischen Fremdbestimmung durch den Anderen stehen. Denn anders als die Persönlichkeit wächst das Antlitz des Menschen nicht heran, sondern es ist vom Zeitpunkt seiner Inkarnation an ausgewachsen, es hat von Beginn an seine volle Größe erreicht. Vom [… Anfang an] bis zum Greis macht das Antlitz keine Veränderung durch. Bevor noch das Kind den ersten Laut von sich gibt, spricht schon die Sprache des Antlitzes von ihm her. Den Beginn des Menschen festzumachen an der Ausbildung eines ‚Ich-Bewußtseins‘ oder einer ‚strukturierten Persönlichkeit‘ ist der mörderische Auswuchs der vorherrschenden Erwachsenenarroganz.“[1]
Rauscher, Gerald. „Niemand ist bei sich zu Hause: Bruchstücke der Identität des Anderen bei Emmanuel Lévinas“. Ethik und Identität, 1998, 147–55: 151f. ↩︎