Der Mensch hat eine seinsmäßige Würde - vor wie nach der Geburt

Was ist der Mensch? Kaum eine Frage ist für den Menschen und die Gesellschaft bedeutsamer als diese Grundfrage. Immanuel Kant und viele andere haben sie gestellt. Von der Antwort auf diese Frage kann das Wohl und Wehe der Gesellschaft und des einzelnen Menschen abhängen. Auf diese Frage antwortet Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Das Grundgesetz setzt die Würde des Menschen voraus – sie kann nicht rein juristisch begründet werden,[1] da es hierzu anderer Wissenschaften, wie z. B. der Philosophie, bedarf.[2]
Selbstverständlich kann jeder Mensch die seinsmäßige Würde des Menschen – vor wie nach der Geburt – erkennen. Kraft dieser Erkenntnis ist er berufen, sie sowohl im Diskurs der Meinungen und Weltanschauungen als auch mit friedlich-demokratischen Mitteln zu verteidigen.
Ebenso kann jeder Mensch erkennen, dass bestimmte philosophische Meinungen und weltanschauliche Positionen die seinsmäßige Würde des Menschen, insbesondere des Menschen vor der Geburt, untergraben. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn Philosophen, Juristen, Politiker etc. behaupten, eine bestimmte Menschengruppe, etwa der Mensch vor der Geburt, hätte überhaupt keine seinsmäßige Würde oder würde erst zu diesem oder jenem Zeitpunkt Menschenwürde erhalten, was nicht mit den tatsächlich bestehenden Sachverhalten übereinstimmt. Nämlich, dass der Mensch von Anfang an eine seinsmäßige Würde besitzt, die ihn von allen anderen natürlichen Wesen unterscheidet.
Somit untergraben bestimmte philosophische Ansichten, auf den Menschen angewandt, wie z. B. der Seins-Sollens-Fehlschluss bzw. der naturalistische Fehlschluss, das Lebensrecht des Menschen und seine unverlierbare seinsmäßige Würde sowie die darauf fußenden Menschen- und Grundrechte.
„Einem Menschen das ontologisch-menschliche Personsein, aus welchen Gründen auch immer, abzusprechen, ist also […] unter allen Umständen, also immer falsch und deswegen zu unterlassen. Vielmehr sollte jeder Mensch im Umgang mit sich selbst und anderen Menschen dem menschlichen Sein, also menschlichem Personsein gerecht werden, das eine ontologisch unverlierbare Würde besitzt.“[3]
Dr. Raphael Bexten
Vgl. Böckenförde, E. W. Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation. In: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft. Nr. 914). Suhrkamp, Frankfurt 1991, ISBN 3-518-28514-9, S. 92–114, 112 (erweiterte Ausgabe 2006): „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“. ↩︎
Vgl. z.B. Bexten, R. E. Was ist menschliches Personsein? Der Mensch im Spannungsfeld von Personvergessenheit und unverlierbarer ontologischer Würde, 2. Auflage.; Philosophie & Open Access; epubli: Berlin, 2017. ↩︎
Ebd. S. 316. ↩︎