Organentnahmen ohne sichere Todesfeststellung und Aufklärung
Über den neuen Anlauf für die Einführung einer Widerspruchsregelung in der Transplantationsmedizin - Von Rainer Beckmann *
Der Bundesrat hat im Dezember 2023 einen Entschließungsantrag verabschiedet, mit dem die Bundesregierung aufgefordert wird, die »Widerspruchslösung« im Transplantationsgesetz (TPG) zu verankern. Dann wäre jeder Bürger automatisch »Organspender« – es sei denn, er hat ausdrücklich einer Organentnahme widersprochen. Der Antrag geht offensichtlich davon aus, dass Menschen, bei denen der »Hirntod« festgestellt wurde, wirklich tot sind, und dass alle Bürgerinnen und Bürger ausreichend zur Organentnahme informiert sind, so dass es gerechtfertigt ist, ihnen eine Entscheidungspflicht aufzuerlegen. Doch beide Annahmen sind falsch: Das »Hirntod«-Konzept ist unbegründet und die Aufklärung der Bevölkerung ist mangelhaft.
Der Hirntod ist kein sicheres Todeszeichen
Eine Widerspruchsregelung scheidet von vornherein aus, wenn diejenigen, denen Organe entnommen werden sollen, noch nicht tot sind. Gemäß § 3 TPG muss vor einer Organentnahme nicht nur der »Hirntod«, sondern auch der Tod des Spenders festgestellt werden. In der Praxis wird dagegen nur der »Hirntod« festgestellt und behauptet, dass damit auch der Tod bewiesen sei. Die entsprechende Aussage in der »Hirntod«-Richtlinie der Bundesärztekammer (BÄK) wird aber mit keinem Wort begründet. Das ist wissenschaftlich unseriös und sollte bei jedem unbefangenen Leser Misstrauen erwecken.
Darüber hinaus sind auch wesentliche Vorgaben der BÄK zur Diagnostik des »Hirntodes« nicht nachvollziehbar:
- Der Prüfungsumfang des Diagnoseverfahrens beschränkt sich auf Großhirn und Hirnstamm, obwohl nach dem TPG auch das Kleinhirn zu prüfen wäre.
- Es ist nicht ersichtlich, weshalb sich aus den vorgeschriebenen Funktionstests (Bewusstlosigkeit, Ausfall der Hirnstammreflexe und der Spontanatmung) ein Ausfall der »Gesamtfunktion« des Gehirns (vgl. § 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG) ergebe. Der Begriff der »Gesamtfunktion« wird an keiner Stelle definiert oder erläutert.
- Die Irreversibilität des Hirnfunktionsausfalls soll durch eine zweite Untersuchung nach 12 bzw. 72 Stunden (je nach Art der Hirnschädigung) bewiesen sein. Studien, mit denen diese Fristen begründet werden könnten, gibt es offenbar nicht, sie werden jedenfalls nicht mitgeteilt.
- Die Irreversibilität der Hirnfunktionsausfälle kann durch keine der vorgesehenen apparativen Zusatzuntersuchungen direkt bewiesen werden. Trotzdem soll gemäß der Richtlinie der Hirnfunktionsausfall sofort und ohne Wartezeit als »irreversibel« angesehen werden können, wenn der klinischen Untersuchung eine apparative Zusatzuntersuchung folgt. Eine Begründung hierfür sucht man in der Richtlinie vergebens.
- Dass alle apparativen Zusatzuntersuchungen gleichwertig seien, wird ebenfalls begründungslos behauptet. In der einschlägigen Literatur wird dagegen die am häufigsten verwendete Methode, das Elektroenzephalogramm (EEG), als wenig verlässlich kritisiert.
Die BÄK-Richtlinie verstößt deshalb offensichtlich gegen das Gesetz, weil seit 2013 die Richtlinien zur Transplantationsmedizin »zu begründen« sind und den »Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft nachvollziehbar« darlegen müssen (§ 16 Abs. 2 S. 2 TPG). Dieser Gesetzesverstoß ist im Rahmen des Genehmigungsverfahrens vom Bundesgesundheitsministerium nicht gerügt worden. Die fehlenden Begründungen wurden vom Ministerium nicht einmal erkannt.
Fehler in der »Hirntod«-Diagnostik
Dabei besteht schon seit Langem Anlass, sich die Richtlinie zum »Hirntod« genauer anzusehen, weil sie 2015 und 2022 jeweils in einem nicht unerheblichen Punkt »nachgebessert« werden musste. Die Änderungen beruhen nicht auf neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern auf der seit Jahrzehnten bekannten Tatsache, dass mit einem EEG nur die Aktivität der äußeren Hirnrinde geprüft werden kann, nicht aber der Hirnstamm.
Somit konnte über viele Jahre hinweg der »Hirntod« (und damit angeblich auch der Tod) »diagnostiziert« werden, obwohl eine hierfür zugelassene apparative Methode von vornherein ungeeignet war.
Dieser Umstand spielte bei einer »Hirntod«-Feststellung in Bremerhaven im Dezember 2014 eine wesentliche Rolle. Auch in diesem Fall war ein EEG abgeleitet worden, obwohl es zur Feststellung des »Hirntodes« ungeeignet ist. Erschwerend kam hinzu, dass bei der Prüfung der Spontanatmung der vorgeschriebene Schwellenwert (60 mmHg paCO2), bei dem von einem Ausfall des Atemzentrums ausgegangen werden kann, nicht erreicht worden war (58 mmHg paCO2). Als dies vor Beginn der Organentnahme – aber nach Öffnung des Bauchraumes (!) auffiel, wurde die Operation unterbrochen, um die Sachlage zu klären. Einer der Beteiligten hat dann den zu niedrigen Wert kurzerhand durchgestrichen und durch »60 mmHg« ersetzt. Hierüber wurde in den Medien nicht berichtet. Der viele Monate später veröffentlichte Untersuchungsbericht der »Prüfungs- und Überwachungskommission« der BÄK trug zusätzlich zur Vertuschung bei. Dort ist die Rede von einer zwar »nicht vollständig dokumentierten, aber richtlinienkonform ausgeführten Hirntoddiagnostik«. Die zwischenzeitlich vorgenommene Änderung der Richtlinie (Unzulässigkeit des EEGs als Ersatz für einen nicht durchführbaren Test der Spontanatmung) wird im Prüfungsbericht mit keinem Wort erwähnt. Auch die Fälschung des Hirntodprotokolls bleibt unbeanstandet.
Wie viele fehlerhafte »Hirntod«-Feststellungen es wirklich gibt, lässt sich nicht abschätzen. Eine flächendeckende Kontrolle findet nicht statt. Wenn selbst die zur Prüfung von problematischen Einzelfällen berufenen Gremien so versagen wie bei dem Bremerhavener Fall, ist es verständlich, dass viele Menschen kein Vertrauen in das gegenwärtige System der »Hirntod«-Feststellung haben.
Das »Hirntod«-Konzept ist nicht begründbar
Für die in der BÄK-Richtlinie aufgestellte Behauptung, mit dem »Hirntod« sei der Tod des Menschen festgestellt, fehlt nicht nur die Begründung (s. o.), sie ist auch nicht begründbar. Selbst wenn der »Hirntod« richtlinienkonform festgestellt würde, wäre noch nicht erwiesen, dass der Patient auch wirklich tot ist.
Der isolierte Organausfall des Gehirns reicht nicht aus, um glaubwürdig anzuzeigen, dass der Tod »des Menschen« eingetreten ist. Wenn ein lebenswichtiges Organ nicht mehr funktioniert, kommt es rasch zum Tod – es sei denn, der Funktionsverlust kann ausgeglichen werden. Das ist zum Beispiel in Bezug auf das Herz anerkannt. Kommt es zum Herzstillstand, verliert der gesamte Organismus innerhalb weniger Minuten seine Fähigkeit, als integrierte Einheit fortzubestehen. Wird dagegen die Pumpfunktion des Herzens wiederhergestellt oder ersetzt, kann der Eintritt des Todes vermieden werden. Das Gleiche gilt auch für den Ausfall des Gehirns. Solange wesentliche Hirnfunktionen, wie der Ausfall der Spontanatmung, ersetzt werden, kommt es nicht zum Tod.
Das »Hirntod«-Konzept beruht auf der Annahme, dass es nach dem Ausfall der Gehirnfunktion auch zur Desintegration des Organismus komme. Dieser Eindruck entstand zu Beginn der 1960er Jahre, als dem Hirnfunktionsausfall in kurzer Zeit der Zusammenbruch des Organismus folgte. Um für die Transplantationsmedizin möglichst »lebensfrische« Organe gewinnen zu können, einigten sich ärztliche Gremien darauf, den »Hirntod« als Zeitpunkt des Todes anzuerkennen. Tatsächlich kam es jedoch nicht bereits mit dem Ausfall der Hirnfunktion zur Desintegration des Organismus, sondern erst einige Zeit später. Das »Hirntod«-Konzept war daher von Anfang an »ungenau« und »voreilig«. Im Laufe der Zeit wurden immer mehr Fälle registriert, in denen der Organismus über längere Zeiträume stabilisiert werden konnte, so dass es nicht zu einem generalisierten Funktionszusammenbruch oder den anerkannten sicheren Todeszeichen (Leichenflecke, Leichenstarre, Verwesung) kam.
Der isolierte »Tod« des Organs Gehirn beweist somit nicht die Desintegration des menschlichen Organismus. Das wird besonders deutlich bei Schwangeren, die trotz »Hirntod«-Feststellung über Wochen und Monate ein Kind austragen können. Von den Befürwortern des »Hirntod«-Konzepts wird insoweit eingewandt, dass eine Schwangerschaft hormonell nicht vom Gehirn, sondern primär von der Plazenta aufrechterhalten werde. Das ist zwar zutreffend, macht aber aus der Schwangeren keinen toten Organismus. Die Schwangerschaft kann nur deshalb ausgetragen werden, weil die Schwangere selbst ein integrierter lebender Organismus bleibt. Ihr Körper zerfällt nicht, wie das bei einer echten Leiche der Fall wäre. »Leben« findet nicht nur im Gehirn statt, sondern ist ein Phänomen des Gesamtorganismus. Ein wirklich toter Organismus wäre definitiv nicht in der Lage, eine Schwangerschaft auszutragen.
Soweit als Begründung für das »Hirntod«-Konzept auf den irreversiblen Bewusstseinsverlust abgestellt wird, ist auch dieser Gesichtspunkt nicht tragfähig. Denn »Leben« und »Bewusstsein« sind nicht das Gleiche. Sicherlich ist es besonders schwerwiegend, wenn ein Patient sein Bewusstsein nicht wiedererlangen kann. Es stellt sich dann die Frage, ob dieser Zustand mit allen intensivmedizinischen Mitteln unbedingt aufrechterhalten werden soll. Aber ein irreversibler Bewusstseinsverlust ist nicht gleichbedeutend mit dem Tod. Menschen sind kombinierte »Körper-« und »Bewusstseinswesen«. Das »Körperwesen« bleibt auch nach einem Hirnfunktionsausfall erhalten. Deshalb ist der »Bewusstseins-Tod« allenfalls ein »Teil-Tod« (und damit nur eine Schädigung), nicht aber der Tod des Menschen als Ganzen.
Aufklärung und Information der Bevölkerung sind mangelhaft
Über all diese Probleme und Ungereimtheiten des »Hirntod«-Konzepts erfährt die Bevölkerung nichts, obwohl das Transplantationsgesetz umfassende und »ergebnisoffene« Aufklärungsmaßnahmen vorschreibt (vgl. § 2 Abs. 1 S. 2 TPG). In der Gesetzesbegründung heißt es dazu, es müssten »auch solche Aspekte in die Aufklärung mit einbezogen werden, die einer Organ- und Gewebespende möglicherweise entgegen stehen könnten« (BT-Drs. 17/9030, S. 16). Dazu gehört zuallererst die Frage, ob der »Hirntod« tatsächlich ein sicheres Todeszeichen ist.
Stattdessen werden die Bürgerinnen und Bürger seit Jahrzehnten einseitig im Sinne des »Hirntod«-Konzepts beeinflusst. In der umfangreichsten Broschüre der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) zum »Hirntod« mit 140 Seiten befassen sich nur wenige Zeilen überhaupt mit den Gründen, weshalb der »Hirntod« ein sicheres Todeszeichen sein soll. Das Hauptargument besteht darin, das Gehirn erbringe als »Steuerungszentrale« die notwendige Integrationsleistung für den Gesamtorganismus. Tatsächlich funktioniert aber der Organismus von »Hirntoten« mit intensivmedizinischer Unterstützung auch ohne »Steuerung« des Gehirns. Patienten mit »Hirntod«-Syndrom sind »behandlungsfähig« (reagieren auf medizinische Maß- nahmen wie andere Patienten auch), zeigen Reflexe und teilweise spontane Bewegungen, verbrauchen Sauerstoff, verwerten Flüssigkeit und Nährstoffe, scheiden Abfallstoffe aus, bekämpfen Krankheitserreger (Immunabwehr) und bringen Wunden zum Abheilen. Diese umfangreichen Lebenszeichen schließen es aus, Patienten mit ausgefallenen Hirnfunktionen als Leichen zu betrachten. Die angebliche »Desintegration« bei Patienten mit »Hirntod«-Syndrom ist eine reine Fiktion.
Auch in allen anderen »Informationsmaterialien« der BZgA wird das »Hirntod«-Konzept propagiert oder stillschweigend vorausgesetzt. Argumente, die gegen eine Gleichsetzung von Tod und »Hirntod« sprechen, werden verschwiegen. Es wird nicht einmal angedeutet, dass es Gegenansichten gibt. Wie überzeugend die Argumente für oder gegen das »Hirntod«-Konzept sind, müssen die Bürgerinnen und Bürger letztlich selbst entscheiden. Sie benötigen hierfür aber umfassende und objektive Informationen, sonst können sie keine wirklich selbstbestimmte Entscheidung treffen.
Es ist nicht Aufgabe der BZgA, die Kritik am »Hirntod«-Konzept bei den vom Gesetz geforderten Aufklärungsmaßnahmen auszublenden und somit die Meinungsbildung der Bevölkerung zu manipulieren.
Keine Rücksichtnahme auf nicht entscheidungsfähige Personen
Nach einer BZgA-Umfrage fühlt sich ein großer Teil der Bevölkerung zum Thema Organspende nicht ausreichend informiert. 45 Prozent der Befragten stufen sich selbst als »weniger gut« (36 %) bis »schlecht« informiert (9 %) ein.
Eine verbesserte Aufklärungstätigkeit ist daher schon jetzt dringend geboten. Sie wäre aber unerlässlich, wenn künftig eine Widerspruchsregelung in Betracht kommen sollte. Die mit der Widerspruchsregelung verbundene Entscheidungspflicht setzt zwingend voraus, dass die Bürgerinnen und Bürger über die Umstände der von ihnen geforderten Entscheidung umfassend und neutral informiert sind. Solange ein entsprechender Informationsstand nicht nachgewiesen ist, ist auch die Einführung einer Widerspruchsregelung nicht zu verantworten.
Aber selbst wenn objektive Informationen über das »Hirntod«-Konzept zur Verfügung stünden, muss damit gerechnet werden, dass viele Menschen diese nicht zur Grundlage einer selbstbestimmten Entscheidung machen könnten. Aufgrund von Untersuchungen zur »Gesundheitskompetenz« der Bevölkerung ist bekannt, dass ungefähr 10 Prozent der Bevölkerung einschlägige Informationen nur »inadäquat« verarbeiten können und bei mehr als 40 Prozent das Verständnis für Gesundheitsfragen »problematisch« ist. Das liegt u. a. an dem in Deutschland nach wie vor hohen Anteil »funktioneller Analphabeten« von ca. 7,5 Millionen Personen. Unter diesen Umständen wäre es nicht haltbar, im Rahmen einer »Widerspruchslösung« einen fehlenden Widerspruch als »Zustimmung zur Organentnahme« zu werten.
Im Ergebnis ist die Forderung nach einem neuen Anlauf zur Verabschiedung einer Widerspruchsregelung darauf angelegt, die Unwissenheit weiter Teile der Bevölkerung auszunutzen, um an mehr Organe zu kommen. Sie widerspricht aber dem grundrechtlichen Anspruch auf Achtung des Rechts auf Leben und der Selbstbestimmung.
Weitere Informationen:
- Falsche Hirntodfeststellung in Deutschland, in: Medizinrecht 11/2023, S. 863-868.
- Das unbegründete »Hirntod«-Konzept, in: Juristenzeitung 22/2023, S. 947-957.
* Wir danken Dr. Rainer Beckmann für die Erlaubnis, diesen Artikel hier wiederveröffentlichen zu dürfen. Erstpublikation:
Rainer Beckmann. „Organentnahmen ohne sichere Todesfeststellung und Aufklärung“. In: LebensForum 149. Heft 1/2024. S. 26-29.