Wie die Gewissensfreiheit in der Medizin aktuell bedroht wird
Der Eid des Hippokrates verpflichtete den Arzt dazu, seine „Verordnungen … nach bestem Vermögen und Urteil“ zu treffen. Der Arzt darf also nur medizinische Handlungen vornehmen, die mit seinem Gewissen vereinbar sind. Es ist allgemein Konsens, dass diese ethische Verpflichtung sich auch auf andere medizinische Berufe wie Apotheker, Hebamme oder Krankenpfleger erstreckt.
Seit Jahren erleben wir eine Erosion dieser Gewissensfreiheit. Ärzte und Angehörige anderer Medizinberufe, die nach ihrem Gewissen handeln, sehen sich zunehmend Repressionen und Schwierigkeiten ausgesetzt. Gleiches kann in Zukunft auch Einrichtungen drohen, die Maßnahmen wie die Abtreibung oder den ärztlich assistierten Suizid aus ethischen Gründen ablehnen.
Nehmen wir den Fall des Berliner Apothekers Andreas Kersten, der sich 2018 aus Gewissensgründen weigerte, in seiner Apotheke die „Pille danach“ vorrätig zu haben oder zu verkaufen, weil sie in bestimmten Fällen frühabtreibend wirken kann und er Abtreibung für falsch hält.. Daraufhin wurde er von der Standesvertretung, der Berliner Apothekenkammer, der Verletzung seiner Berufspflichten bezichtigt. Im Juni 2024 hat das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg einen Schlussstrich unter den Gerichtsmarathon gezogen. Dieses sprach Kersten vom Vorwurf der Berufspflichtverletzung frei, aber nur aus einem formalen Grund: Wegen eines Schreibens des Bundesgesundheitsministeriums
konnte er annehmen, aus Gewissensgründen die Abgabe der „Pille danach“ verweigern zu dürfen. Allgemein führte das Gericht aber aus, dass die Gewissensfreiheit dem Versorgungsauftrag untergeordnet sei. In diesem einen Satz, der uns aufhorchen lassen muss, sagte das Gericht folgendes: Ein Apotheker, der die Abgabe bestimmter Präparate nicht mit seinem Gewissen vereinbaren kann, muss den Konflikt lösen, indem er seinen Beruf aufgibt.
Dieses Urteil ist vor dem Hintergrund aktueller Versuche, die Gewissensfreiheit von Ärzten in Lebensrechtsfragen durch strukturelle Maßnahmen zu beschränken, besonders bedrohlich. So hat die Bundesregierung im November 2023 Pläne veröffentlicht, Abtreibung zu einem verbindlichen Teil des Medizinstudiums zu machen. Die Auswirkung dieser Regelung kann einer Stellungnahme der „Doctors for Choice Germany“ entnommen werden. Hier steht: „Sich der Durchführung einer medizinischen Behandlung zu verweigern, für die man explizit ausgebildet wurde, sollte nicht normalisiert werden.“
Es ist wichtig, jede Einschränkung der medizinischen Gewissensfreiheit konsequent zu bekämpfen. Eine defensive Haltung allein wird nicht ausreichen. Wir müssen Lebensoasen schaffen, in denen die Entfaltung des Sinnes, der jeder Lebenssituation innewohnt, im Mittelpunkt steht und die Gewissensfragen gar nicht erst aufkommen können.
Prof. Dr. Paul Cullen,
Stellv. Vorsitzender BVL